Das erratische Sein. Eine kritische Ontologie der Gesellschaft, (Madrid, Trotta, 2009)
Ser erratico. Una ontologia
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English translation of chapters 4.2. and 5 (by Agata Bak) Table of Contens M. G. Navarro, "Erratic Being (Luis Sáez Rueda)", Cont Philos Rev., 46, 149-151 (2013

Das Buch verfolgt zwei wesentliche Anliegen:

1) Es soll ein eigenes Konzept Menschseins erarbeiten, das sich durch den Begriff des „erratischen“ oder „irrenden Seins“ beschreiben lässt. Der Grundthese zufolge ist der Mensch als eine uneinige Einheit zweier irreduzibel heterogener, aber intensiv zusammenhängender Aspekte zu begreifen: Zum einen seine Weltzugehörigkeit im Sinne von Heideggers „In-der-Welt-sein“, und zum anderen die Tatsache, dass sein „Wohnen“ in der Welt in konstitutiver Weise eine Befremdung und Beirrung über die eigene Zugehörigkeit zu einer sinnhaft erschlossenen Welt einschließt. Die unhintergehbare Spannung beider Aspekte bedingt eine präreflexive Distanz des Menschen zu jeder seiner konkreten Existenzweisen.

Insofern diese gleichursprünglichen Seinsweisen des Menschen – sein Einbezogensein in eine Welt und seine Fremdheit in ihr – eine spannungsreiche und zeitlich veränderliche Einheit zum Ausdruck bringen, bedeutet „erratisches Sein“, dass der Mensch nur in dem Maße auch zu einer Welt gehört, wie er zugleich auch erfährt, dass er sich dieser Welt, aus der er hervorgeht, unweigerlich auch ausliefert: Er bewohnt sie genau in dem Maße, wie er sich in ihr auch als fremd erfährt und er ist in ihr insofern verwurzelt, als er ihr ausgesetzt ist.
Im Spannungsfeld dieser gleichursprünglichen Seinsweisen existiert der Mensch in einem in-dividuellen zeitlichen “Zwischen”, gleichsam als ein Riss zwischen zwei Aspekten eines produktiven Nichts: der Welt, zu der er gehört und von der er sich zu emanzipieren strebt und der Welt, an die er sich wendet, die er aber noch nicht ist. Der Ausdruck „erratisches Sein“ hat in seinem lateinischen Ursprung eine pejorative und eine positive Bedeutung: Einmal den Zustand der Richtungslosigkeit und des Umherdriftens, den er aber – und das ist meinen Untersuchungen zufolge seine zweite Bedeutung – in einem unablässigen Prozess der von ihm verkörperten Erfahrung hervorbringt und figuriert, den man „Chaosmos“ nennen könnte: Er hat weder einen vorausgesetzten Grund noch einen vorgegebenen Zweck, sondern bringt die Konsequenz und Regelhaftigkeit seines Werdens in einem irreduzibel doppelten Sinn hervor: indem er sie zugleich ans Licht bringt und schafft. In der inter-relation seiner differentiellen Einheit ergeben sich chaotische Begegnungen mit und in der Welt, die ein „Netzwerk“ oder ein „Rhizom“ bilden, welches das Chaos in eine spontane und sich ständig erneuernde Ordnung transformiert. Diese zweite, nicht pejorative Bedeutung des Ausdrucks „erratisch“ bezeichnet den Menschen im eigentlichen
Sinne in seiner individuellen zeitlichen Existenz, während seine erste Bedeutung seine gegenwärtige, von ontologischen Krisen unterschiedlicher soziokultureller Ausprägungen geschüttelte Seinsweise erfasst.

2) Das zweite Anliegen des Buches besteht darin, die theoretischen Grundlagen für eine ontologische Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft zu erarbeiten. Deren Grundthese lässt sich in drei Aspekte auffächern:

a) Wir befinden uns in einer „Gesellschaft der Leere“ deren Formen sich als Produkte unterschiedlicher Verlaufsformen einer nihilistischen Entleerung begreifen lassen.

b) Die spätmodernen Gesellschaften werden von schwindelerregenden Veränderungen durchquert, in denen sie ihre Bedingungen nur noch quantitativ modifizieren, aber nicht mehr grundlegend und qualitativ verändern können. Man hat diese scheinbaren Bewegungen deshalb auch „Organisation der Leere“ genannt. An diese Bezeichnung knüpfe ich mit dem Begriff der „stationären Gesellschaft“ an, in der die Zeit wirklicher Ereignisse und mit ihr das freie Werden des „erratischen Seins“ gleichsam kollabiert.

c) In dieser Gesellschaft und ihrem Weltverständnis wird das ursprüngliche „erratische Sein“ des Menschen zugunsten einer Seinsweise annuliert, die sich vom Gesichtspunkt seiner „Weltschöpfung“ als uneigentlich, desorientiert und unproduktiv beschreiben lässt. In der Folge dieser nihilistischen Zersetzung wird welthaftes Sein durch Vorstellungswelten ersetzt. Dafür gebrauche ich den Begriff der „Fiktionalisierung der Welt“, der die grundlegende „Zivilisationskrankheit“ unserer Zeit beschreiben soll. Das Buch untersucht unterschiedliche Erscheinungsformen dieser „ontologischen“ Krankheit – was zugleich auch eine Neuprägung des Begriffes „Krankheit“ in einem überindividuellen, kollektiven oder zivilisatorischen Sinn erfordert.

Die bisher skizzierten Dimensionen des Buches werden in den ersten beiden Kapiteln des ersten Teils I ausgeführt und begründet. Eine solche Begründung erfordert, wie sich zeigt, eine Auseinandersetzung mit Heidegger, der die Irre ausschließlich als Verfallserscheinung aufgefasst hat. Deshalb ist der II. Teil des Buches einer Kritik Heidegger gewidmet, die auf seinen Spuren über die von ihm bezeichneten Wege hinausgehen will. Die grundlegende These dieser geistesgeschichtlichen Auseinandersetzung besteht, vereinfacht gesagt, darin, dass Heidegger das Werden des menschlichen Daseins im Grunde als unablässigen Wechsel seiner „Aufenthaltsorte“ bzw. seines „Wohnens“ begreift. Über diese Auffassung hinaus und noch grundlegender besteht dieses Werden jedoch u.E. darin, unaufhörlich „zwischen“ Aufenthaltsorten und gleichsam in einer Existenz im Freien, im Übergang zu sein. Von diesem Gesichtspunkt aus halte ich Heideggers Auffassung eine genuin spanisch geprägte Auffassung entgegen, die vor allem von der Figur Don Quichottes inspiriert ist. Im Unterschied zu Heidegger und auch zur Hermeneutik Gadamers gründet das hier entworfene Modell in
einer tragischen Konzeption des Menschseins. Seine Ausführung und Begründung läuft in kritischer Distanzierung von Heidegger auf eine konstitutive Zusammengehörigkeit von „Eigentlichkeit“ und „Uneigentlichkeit“ hinaus, aus der sich sodann –mit, aber auch gegen Gadamer– eine exzentrische Hermeneutik des menschlichen Daseins ergibt.

Nach und im Licht dieser Auseinandersetzung mit Heidegger vertieft der III. Teil des Buches die Charakterisierung des Menschseins als eines „erratischen Seins“, indem er die Dimensionen der Weisen klärt, in denen es jeweils „ist“ oder „sich ereignet“:

a) Kapitel 6 zeigt, dass und inwieweit das „Verstehen“ und „Handeln“ als differentielle aber untrennbare Aspekte des Menschseins - auch hier gleichsam als zwei Seiten einer Medaille - zur menschlichen Existenz gehören. Hierbei wird es notwendig, einerseits über die phänomenologische „Ontologie des Sinnes“ und andererseits auch über die nietzscheanische, von poststrukturalistischen Denker wieder aufgenommene „Ontologie der Kraft“ hinauszugehen. Dabei werden Aspekte der Tradition des spanischen Barock (insbesondere Graciáns) aufgegriffen, die den von Nietzsche und Heidegger inspirierten Positionen fremd geblieben sind. Von ihnen inspiriert führe ich die von mir vorgeschlagene Sichtweise mit dem Ausdruck „Kraft-Sinn“ ein, die ich im Sinn des spanischen Barock als „gesta“, d.h. als ‚Heldentat‘ bzw. eine Tat bezeichne, die grundlegende Veränderungen bewirkt. Von ihr aus, fällt Licht auf meine These, dass wir uns heutzutage in einer „neobarocken“ Epoche befinden.

b) Im Kapitel 7 entwickle ich ein durchaus auch persönlich gefärbtes Verständnis der Beziehung des Menschen zur Welt im Sinne einer – der transzendentalen Apperzeption präreflexiv vorausliegenden – Beziehung zwischen dem Menschen als einer „Befremdung in statu nascendi“ und der Welt als „problematischer Wirklichkeit“. Daraus leite ich sodann meine eigene Sicht der Entstehung eines „in-Gemeinschaft-seins“ ab, die in der Notwendigkeit gründet, „das Ereignis“ mit Anderen „zu teilen“ und so erst ankommen zu lassen.

c) Das 8. Kapitel zeigt, dass zum Menschsein ein produktives „Irresein“ konstitutiv hinzugehört, der seine Existenzweisen durchquert und der Kreation neuer Lebensräume zugrunde liegt. Dieses Begriff eines kreativen Irreseins wird im Horizont einer Auseinandersetzung mit Heidegger und Derrida entwickelt.

Der IV. Teil analysiert den Zusammenhang zwischen der präreflexiven und der reflexiven Dimension der menschlichen Existenz und diskutiert die hierbei sich stellenden Probleme der Normativität. Die Grundidee lässt sich in die folgenden Punkte auffächern:

a) Eine kritische Abgrenzung von den Positionen Habermas‘ und Apels (Kap. 9.2.).

b) Ein Rückgriff auf Kant versucht eine ontologische Transformation seiner Ethikbegründung. Der neue Kategorische Imperativ wird hier „zenitales Prinzip“ genannt (herkommend von Zenit). Die Entfaltung dieser Problematik in den Kapiteln 9.3.-9.5., die im 8. Kap. vorbereitet wird, ist wohl der riskanteste Teil meines Unterfangens.

c) Von hier aus lässt sich Denken als ein intensiver Zusammenhang seiner präreflexiven und reflexiven Aspekte, von Verstehen und reflexiver Aktivität (im Sinn von augere) begreifen. Auch hier greife ich auf die spanische barocke Tradition zurück, indem ich eine Gleichsetzung von Denken und ingenium in meinen Ansatz aufnehme (Kap. 9). Dieser Teil beruht auf einer eingehenden Analyse der grundlegenden menschlichen Intelligenz als „ingenium“ und ihrer Verbindungen zu spanischen Traditionslinien, die sich bis in die lateinamerikanische Geschichte verzweigen.
d) Daraus ergeben sich Kriterien einer Kritik der „stationären Gesellschaft“ und der Fiktionalisierung der Welt. Die hier entwickelten Kriterien sind „negativ“ (Kap. 10).


Einige Anmerkungen zur Rezeption des Buches und zum Autor

Das Buch war bisher Gegenstand von Vorlesungen, Seminaren und Vorträgen in Spanien und verschiedenen lateinamerikanischen Ländern, in die ich eingeladen wurde, um darüber zu referieren. In Spanien hat es zahlreiche anerkennende Rezensionen gefunden.
Außerdem wurde das Buch vom Centro Superior de Investigaciones Científicas (CSIC, etwa der deutschen DFG entsprechend) unter die vier besten philosophischen Texte des Jahres 2009 aufgenommen und in diesem Rahmen auch in der Zeitschrift Continental Philosophy Review rezensiert.
Der Autor ist Professor im philosophischen Department II der Universität Granada. Er hat bisher 4 Bücher veröffentlicht und 4 Bände herausgegeben. Zahlreiche Aufsätze sind in philosophischen Zeitschriften erschienen, einige von ihnen auch in deutscher und englischer Sprache (s. Anlage). Über seine Tätigkeit informiert auch die web-Seite: /http://www.ugr.es/~lsaez/cv/Welcome.html